Vor 63 Jahren begann einer der größten Arzneimittelskandale in der Geschichte Deutschlands: Der Contergan-Skandal. Am 15. November 1961 gab der Kinderarzt Widukind Lenz bekannt, dass das Arzneimittel „Contergan“ zu Kindesmissbildungen während der Schwangerschaft führt. Etwa zwei Wochen später, am 27. November 1961, nahm die deutsche Herstellerfirma Grünenthal das Schlaf- und Beruhigungsmittel vom Markt.
Das Medikament, das den Wirkstoff Thalidomid enthielt, wurde von der Firma Grünenthal in Stolberg hergestellt und vertrieben. Es galt als besonders sicher und wurde auch von schwangeren Frauen gegen die morgendliche Übelkeit eingenommen. Doch niemand ahnte, dass Contergan in der frühen Schwangerschaft die Entwicklung der Föten schädigen konnte.
Die Folgen waren verheerend: Weltweit kamen etwa 5000 bis 10000 Kinder mit Missbildungen oder gar dem Fehlen von Gliedmaßen und Organen zur Welt. Zudem gab es eine unbekannte Zahl von Totgeburten. Die sogenannten “Contergan-Kinder” mussten ihr Leben lang mit den körperlichen und seelischen Folgen ihrer Behinderung kämpfen. Viele von ihnen wurden von ihren Familien verstoßen oder diskriminiert. Die meisten erhielten nur eine unzureichende medizinische Versorgung und finanzielle Entschädigung.
Der Contergan-Skandal löste eine große öffentliche Empörung aus und führte zu einem langwierigen Gerichtsprozess gegen die Verantwortlichen von Grünenthal. Die Anklage lautete auf Körperverletzung und fahrlässige Tötung. Der Prozess begann im Mai 1968 und endete im Dezember 1970 mit einem Vergleich, der von der Bundesregierung vermittelt wurde. Grünenthal musste 100 Millionen D-Mark in eine Stiftung für die Contergan-Geschädigten einzahlen, ohne ein Schuldeingeständnis abzugeben. Die Opfer erhielten eine monatliche Rente, die jedoch für viele nicht ausreichte, um ihre Bedürfnisse zu decken.
Der Contergan-Skandal hatte auch weitreichende Auswirkungen auf den Umgang mit Arzneimitteln in Deutschland und weltweit. Er führte zu einer Verschärfung der Zulassungs- und Kontrollverfahren für Medikamente und zu einem stärkeren Bewusstsein für die Risiken und Nebenwirkungen von Pharmaprodukten. Er zeigte auch die Notwendigkeit einer besseren Aufklärung und Beratung von Schwangeren und Ärzten über die möglichen Folgen der Einnahme von Medikamenten in der Schwangerschaft.
Heute leben noch etwa 2400 Contergan-Geschädigte in Deutschland. Sie fordern eine angemessene Entschädigung und Anerkennung für ihr Leid. Sie wollen auch, dass die Geschichte der Contergan-Tragödie nicht vergessen wird und dass die Verantwortlichen sich entschuldigen. Im Jahr 2012 errichtete die Stadt Stolberg ein Denkmal für die Contergan-Opfer, das an ihr Schicksal erinnern soll. Im selben Jahr entschuldigte sich der damalige Vorstandsvorsitzende von Grünenthal, Harald Stock, erstmals öffentlich bei den Betroffenen. Doch viele von ihnen empfanden die Entschuldigung als zu spät und zu wenig.
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